Angelikas Wunder-Brief

vom 3./4. März 2020

Sei klug und halte Dich an Wunder

(Mascha Kaléko)


Ihr Lieben,
während ich hier am 9.Tag meines Aufenthaltes in Tübingen in einem warmem Bett sitze und von liebevollen Menschen umsorgt werde, laufen Menschen –Väter-Mütter und Kinder- um ihr Leben: aus Syrien und anderswo, in der Kälte, durch Wasser, durch Stacheldraht, ohne Versorgung mit dem Nötigsten, konfrontiert nicht mit liebevoll auffangenden Menschen wie ich hier, sondern konfrontiert mit wütenden, weil vermutlich inzwischen überforderten griechischen Grenzern, konfrontiert mit einem wütenden Mob, im Stich gelassen von sehr vielen aus den Reihen der Politikerinnen, die nicht müde werden zu betonen, warum es so wichtig ist, jetzt nicht Mensch zu sein, sondern Grenzen zu sichern, Grenzen zu sichern, Grenzen zu sichern. …und nur keine Menschen über diese Grenzen hinüber zu lassen. Ich schäme mich heute, dass ich Europäerin bin, und dass wir es zulassen (müssen?), dass unsere elementarsten Werte gnadenlos mit Füßen getreten werden, und es tatsächlich möglich ist, dass wir im 21. Jahrhundert über Menschen sprechen wie über Waren, die man annehmen kann oder auch nicht. Ich bin wütend, ich bin fassungslos und kann es nicht glauben.

Eigentlich will ich Euch nur kurz ein bisschen mitteilen von meinem ganz persönlichen Zustand. Einfach deshalb, weil ich so oft gefragt werde, und ich auch ein bisschen vermute bzw teilweise weiß, dass sich manche von Euch Gedanken machen und Sorgen. Und darauf möchte ich versuchen eine Antwort zu geben, und zwar meine eigene. Aber das geht zusammen mit dem, was ich eben gerade geschrieben habe: Alles ist sehr relativ. Man muss nichts vergleichen, aber darf auch über Tellerränder hinaus schauen.

Meine Physische Situation: Ich hatte nach Weihnachten wieder ein 3 –Monats-CT, das einen
Wachstum meiner Metastasen gezeigt hat. Daraufhin habe ich eine neue Therapie bekommen:
Olaparib plus eine spezielle Chemo, die vor allem schnell arbeiten sollte, das hat sie auch getan, allerdings in die andere Richtung: Die Metas sind schnell weitergewachsen. Da es sich bei diesen Metas um solche handelt, die einem die Luft auch ganz schön schwergängig machen, habe ich jetzt einen Stent irgendwo in der Luftröhre. Das ist gut, macht atemfrei, war auch anstrengend, aber- wie bereits gesagt- umsorgt und sehr herzlich begleitet hier in der Tübinger Uniklinik. Diese Diagnosen machen vielleicht Angst- und Angst lähmt sehr und macht zittrig, auch mich gelegentlich. Ich habe keine Ahnung, ob ich und wie ich diese Situation hinbekommen werde. Ich kann Euch auch keine Prognosen sagen: ich habe bisher erfolgreich jede Prognose abgelehnt, weil ich Prognosen als festlegende Urteile über Zeitpunkte oder Zeitrahmen erlebe (bei Mitpatienten) mit einem Zug von sich selbst erfüllender Prophezeiung. Niemand weiß wirklich, was wann mit uns passieren wird. Und ich schaue lieber auf das, was stärkt, z.B. die gesunden Zellen (die ich tatsächlich auch noch habe, auch wenn sie nach über
einem Jahr Chemotherapie ein wenig lahmen), aber auch auf die halbvollen Gläser und die weißen Blätter eines Buches statt die schwarzen Ränder.

Ich werde jetzt keine Chemo mehr machen- auch wenn es immer noch 7 Sorten gibt, die man noch versuchen könnte- sondern ich werde jetzt erstmal mit Strahlen arbeiten und gleichzeitig eben meinen gesunden Zellen Empowerment zukommen lassen.

Dann gibt es noch die anderen Ebenen: Gleichzeitig gibt es sehr gute Gründe, warum ich jetzt noch nicht vom Irdischen verschwinden möchte. Ich habe noch viel zu tun. Ich will auch noch viel erleben, noch arbeiten , und vor allem: ich will noch leben!
Ich kenne die geheimen Ideen nicht, die im Weltenplan existieren. Mag sein, dass ich mich irre mit meinem Vorhaben, das Projekt Krebs zu stoppen und irgendwie eine friedliche Koexistenz hin zu bekommen. Irgendwie denke ich aber, dass ich es als Betroffene doch spüren müsste, sollte ich jetzt gehen müssen. Ich fühle es nicht.
Ich fühle andere Dinge, die mir sagen: Finde den Weg, und gehe ihn! Ich weiß nicht, ob ich ihn schon genau kenne, aber ich spüre, dass es ihn gibt. Und wenn es ihn nicht gäbe, und in mir nur ein Bild leben würde, das „unrealistisch“ wäre (angesichts von Befunden, die sich in Arztbriefen manifestieren), dann wäre es für mich dennoch richtig. Wer mag denn urteilen darüber, was realistisch ist und was nicht?


„Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist“ (ich glaube, Ben Gurion hat das mal gesagt). WOW. Auch wenn ich politisch in der Palästinafrage ganz anders denke als er dachte- dieser Satz hat mich immer wieder begleitet. Unsere Mutter hat mich übrigens das mit den Wundern gelehrt, und ich bin ihr dankbar dafür.

Vielleicht muss es auch gar kein Wunder sein. Vielleicht reicht auch der Satz eines jungen Arztes hier: „Sieht herausfordernd aus, aber wir haben da noch Etliches an Ideen“
Ja, ich bin dankbar, bei allem, was manchmal auch ganz schön schwer war in den letzten Wochen- ich bin dankbar und freue mich riesig darüber, dass meine Atmung wieder gut funktioniert, dass so Vieles plötzlich wieder geht, was temporär schwer ging, dass ich irgendwann bald auch wieder „arbeiten“ darf, und dass es vor ganz viele liebe Menschen gibt, die mich unterstützt haben, allen voran meine lieben Kinder.
Und am liebsten würde ich Euch bitten, die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass es auch in sehr schwierigen Momenten Möglichkeiten von Entwicklung gibt. Ich glaube, dass man das dann Wunder nennen könnte.

Daher schließe ich mit Hilde und schicke Euch allen herzliche Grüße
Angelika/ Tille / Luhu

„Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten“

(Hilde Domin)

Karlsruhe- Inzwischen ist es der 5.3.2020: ich bin seit heute wieder zuhause- ein äußerst angenehmes Gefühl. Und wieder muss ich an all die denken, die im Moment gar kein Zuhause haben und doch so dringend eines bräuchten. Es ist schwierig für mich nichts wirklich tun zu können. Außer sehr dankbar sein, dass ich gerade sehr aufgehoben bin.
Mit meinen Töchtern habe ich vereinbart, dass es vielleicht ganz gut ist, wenn Ihr ihre email- Adressen habt. Mir selbst wächst das manchmal ein kleines bisschen über den Kopf, alle Nachfragen gut zu beantworten. Und wenn jemand das Gefühl hat, er müsste jetzt aber doch dringend etwas wissen, dann stehen Hanna und Lena bzw ihre Postfächer bereit unter
lenahuber@web.de bzw ra.hannaniang@gmail.com

Ich selbst werde mich ab morgen ins Reich der Strahlen begeben und meine Hand immer wieder – wie einem Vogel – hinhalten

Herzliche Grüße nochmals an alle und eine gute Zeit!