Im Jahr 1994 stellte sich Angelika mit folgendem Schreiben an der Freie Waldorfschule Karlsruhe vor:
Nun soll ich mich hier vorstellen, aber es fällt mir unglaublich schwer, aus irgendwelchen Ordnern Jahreszahlen herauszusuchen, die meinen Studien-, Arbeits- oder Wohnortwechselverlauf dokumentieren könnten. Ich mag es – glaube ich – nicht angesichts der Empfindungen, die mich hier an dieser Schule begleiten. Ich spüre, dass ich an einem wunderbaren Punkt angekommen bin; wie bei einer Wanderung, bei der ich Umwege gegangen bin und mich ein paar Mal verlaufen habe, aber plötzlich auf einem herrlichen Berg gelandet bin, der mich gar nicht anregt, die genauen Einzelheiten des Aufstiegs zu rekonstruieren, sondern der mich einfach froh stimmt, weil ich angekommen bin. Ja, ich bin angekommen, was nicht heißt, dass ich hier stehen bleiben darf.
Aufgebrochen bin ich als Kind, vielleicht ganz früh schon, aber da war immer die Musik, die mich sanft und doch deutlich geformt und oft besänftigt hat.
Unsere Wohnung war von vorne bis hinten durchdrungen von dieser Kunst: die Eltern lebten davon, die 5 Geschwister taten es alle – irgendwie, auch ich natürlich. Wir nannten es immer zynisch „Wohnungsmusik“, weil wir viel zu arm für ein Haus und damit „Hausmusik“ waren. Aber wir betrieben Wohnungsmusik mit Leidenschaft. Aber irgendwann, so um die 15/16 Jahre, da ging bei mir nichts mehr! Nein, so nicht! Ich wollte nicht mehr harmlos Flöte spielen, wenn in Vietnam ein grausamer Krieg geführt wurde, wenn im Obdachlosenviertel nebenan Menschen in Verzweiflung und Angst vor dem nächsten Tag lebten.
Ich bekam Schwierigkeiten, meine Lehrer ernstzunehmen. Konnte es wirklich sein, dass sich deren Interesse nur auf meine Griechisch- und Lateinkenntnisse beschränkte, konnte es wirklich sein, dass es sie nichts anging, wie Menschen auf der Welt und auch ganz nahe bei uns, in Angst und Schrecken lebten?
Ich wollte, dass sie uns halfen, die Welt zu verändern, aber mit diesem Wunsch wurden meine Zeugnisse nach und nach schlechter. Da wusste ich, dass ich selbst Lehrer werden musste. Und dann begann ich radikal zu werden, ich wollte an die Wurzeln der Probleme! Wege, Umwege und auch Irrwege bin ich gegangen, im Außenleben Musik studiert, Pädagogik studiert, Lehrerin geworden, an verschiedenen Schulen meine radikalen Träume mit realen Schultatsachen konfrontiert, und immer wieder flackerte dazwischen die Musik irgendwo auf. Sie, die ich einst wütend von mir gestoßen hatte, weil ich es nicht aushalten wollte, dass sie sich Kaufhausmanagern dienlich machte, weil ich ihren vermeintlichen Verrat an Herrschende nicht billigen wollte, sie war es letztlich, die mir das Tor zu einer anderen Welt öffnete.
Als mein zweites Kind klein war, habe ich – während der Schwangerschaft mit dem dritten, in der ich ziemlich krank war – wieder angefangen ganz viel Musik zu machen. Lena war dabei. Und in den Augen des Kindes las ich, dass meine Weltänderungsversuche gar nichts sein konnten, weil ich etwas noch gar nicht richtig gelernt hatte: Demut und Dankbarkeit. Und beim Musizieren – mit dem Kind im Leib und dem anderen nebendran auf dem Klavierhocker – flossen diese Empfindungen bis in mein Innerstes hinein. Ich durfte lernen, mit anderen Augen die Welt zu betrachten und ich hatte das Gefühl, dass ich ständig so reich beschenkt wurde:
Lehrer, die Kinder in ihrem Wesen so liebevoll annehmen, Menschen, die sich nicht scheuen, um Fragen und Antworten zu ringen und jede Menge Möglichkeiten, die in mir selbst lagen.
Mein Ziel wurde immer klarer: ich bin weitergegangen, einen holprigen immer auch absturzgefährdeten Weg mit Schlaglöchern, begleitet von lieben Menschen, Seminar vormittags, Geldverdienen nachmittags, um alles herum Menschen, die es mitgetragen haben. Ich habe Entscheidungen getroffen, die nicht immer fröhlich waren, aber wichtig, um weitergehen zu können.
Nun bin ich hier, wirklich voller Dankbarkeit, beschenkt mit dem Vertrauen eines wunderbaren
Kollegiums und dem von Kindern und Eltern. Ich durfte Vieles lernen, auch dort, wo ich heute nicht mehr sein kann und Vieles dort, wo ich heute bin und bleiben möchte, um weiterzuarbeiten. Der flackernde Funke meiner einstigen Jugend hat sich verwandelt und heute fände ich es vermessen, Ziele hier an dieser Stelle zu formulieren, aber ich kann sagen, was ein guter Begleiter sein kann:
Die Musik und mit ihr die Freude und die Ehrfurcht, die uns die Grundlage für alles
Weitere – Wesentliche werden mag.